Donnerstag, 21. Mai 2015

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Über Fälle


So Herr Lampe, jetzt noch mal in Ruhe.“, sagt der Wachtmeister und klappt einen Notizblock mit der Spitze seines Kulis auf. „Sie wollten...“, fährt er fort „...einen Raubüberfall vereiteln, was unmittelbar zu einem Straßenfest ohne Genehmigung, dreier Anzeigen wegen Ruhestörung und einem Wohnungsbrand führte. Kann man das so zusammenfassen?“
Natürlich kann man das so zusammenfassen, wenn man keine Lust hat, seinen Feierabend mit Berichteschreiben zu verbringen. Das ist schon wahr, aber deshalb ja noch lange nicht die ganze Wahrheit. „Also, Herr Wachtmeister...“, setze ich zu erzählen an. „Das war so...“


Der 166er Bus fuhr gerade an, als ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. An sich jetzt nichts ungewöhnliches, so eine Bewegung. Gibt's immer wieder mal, auch wenn ich selbst danach trachte, derlei neumodischen Unsinn zu vermeiden. Aber diese Bewegung wirkte anders, aggressiv, verursacht durch einen Mann mittleren Alters, der einer Frau mit Kopftuch die Brieftasche aus den Händen wandte und dann alsbald dem Sonnenuntergang entgegen joggte. Um 11 Uhr vormittags. Krasser Keks. Im Bus erklang die schallende Stille ausbleibender Zivilcourage. Ein Meta-Sound, eher in der Magengrube gefühlt, denn gehört. Als würde man mit einem Klöppel auf einen großen Kupfergong hauen wollen und am Ende des Schwungs feststellen, dass man gar keinen Klöppel in Händen hält, sondern ein nasses Baguette. Mensch denkt sich seinen Teil, z.B.:
„Was wollte ich mit einem nassen Baguette? Impotenz visualisieren?“
Die Menschen im Bus dachten auch und zwar alle zugleich: „Eigentlich sollte ich jetzt...“

Das Heldentum liegt nicht in meiner Familie. Wer Helden sucht, soll auf Friedhöfen nachsehen. Helden haben eine kurze Halbwertszeit und die Eigenschaft, sich über kurz oder lang am falschen Ende einer Klinge wieder zu finden. Andererseits habe ich mir gestern selbst Pesto gemacht. Ich habe noch nie selbst Pesto gemacht und konnte auch nicht erklären, wieso gestern, als ich die an die Zimmerdecke pürierten Basilikumschnetzel abzukratzen versuchte. Menschen sind halt Wesen des Moments, Launen Untertan, und außerdem wollte ich schon immer mal „Haltet den Dieb!“ rufen.
„Haltet den Dieb!“, rief ich und bewirkte damit, dass sich vor uns eine Gasse auftat, durch die wir einander bequemer verfolgen konnten. Nichts lässt Menschen schneller zur Seite springen, als die Aussicht, sich unverhofft an irgendwas beteiligen zu müssen. Ruft man hingegen „Aus dem Weg!“, ist es, als erlitte der Bürgersteig einen akuten Fall von Arteriosklerose.

Die ersten paar Meter unserer kleinen Verfolgungsjagd verliefen angemessen dynamisch. Er gab Gas, ich gab Gas doch dann wurden wir beide langsamer. Er, weil er um die 50 und leicht übergewichtig war. Ich, weil mir klar wurde, dass ich soweit gar nicht gedacht hatte. Was würde ich tun, hätte ich ihn eingeholt? Was, wenn er beschlösse, dass es weniger anstrengend wäre, mich aufzuhängen, als mich abzuhängen? Im Fernsehen drehen sie Flüchtigen immer die Arme auf den Rücken und donnern sie auf die nächste Motorhaube. Wir aber liefen gerade durch einen Park. Das einzige, dass wenigstens vier Räder hatte, war der Kinderwagen von Frau Mischalke, von der kaum anzunehmen war, dass sie so freundlich wäre vor dem Donnern den kleinen Sven-Tyler herauszunehmen. So wurde aus unserem Sprint erst ein gemütliches Traben mit gleichbleibendem Abstand und schließlich Stillstand. Schwer atmend drehte er sich langsam zu mir um und blickte mir tief in die Augen.

Ein leiser Amselschiss durchschnitt das aufgekratzte Patt und reichte dem Schurken wiewohl als Startsignal. Er schritt in meine Richtung, erst zögernd, beschleunigte dann und rannte schließlich mit Karacho auf mich zu. „Ach du Scheiße!“, dachte ich und begann ebenfalls zu laufen. Vor ihm weg. „Haltet den Dieb!“, rief er. Letztlich erreichten wir erneut die Bushaltestelle, wo uns bereits das Opfer der Missetat erwartete. Vielleicht waren es die fremdländischen Flüche, vielleicht auch das mordlüsterne Funkeln ihrer dunklen Augen, unter denen zerronnener Mascara martialische Muster bildete. Vielleicht die zu Boden fallenden Brillengläser der Frau Mischalke, das Opfer beim Ausholen mit ihrer nietenbesetzten Handtasche förmlich spaltete oder eine Kombination aus alle dem, die uns dazu veranlasste, die Richtung unserer kleinen Hatz abermals zu überdenken.
„Haltet den Dieb!“, schrie sie. „Haltet DEN Dieb!“, präzisierte ich.

Zurück im Park durchquerten wir das Spielfeld einer Jugger-Gruppe, die sich augenscheinlich sehr darüber freute, bereits mit Knüppeln bewaffnet zu sein und ungefähr auf der Höhe Weserstraße trafen wir auf die brasilianischen Teilnehmer eines Conga-Kongresses, die dort eigentlich nur was hatten essen wollen, nun aber dem Anblick sich verfolgender Menschen nicht widerstehen konnten und spontan eine Conga-Line ausriefen. Es gibt Dinge, die machst du einfach. Wenn ein Kleinkind dir ein Spielzeugtelefon reicht, gehst du ran. Wenn die Kassiererin feststellt, dass irgendwo ein Preisschild fehlt, sagst du: „Ach, dann nehm ich zwei!“ Und wenn irgendwo einer eine Conga-Line ausruft... Tja.

„Und dann ist die ganze Sache irgendwie außer Kontrolle geraten, Herr Wachtmeister.“, sage ich. „Außer Kon-troll-e...“, notiert er und scheint es augenblicklich zu bereuen.
„Und der Wohnungsbrand?“, fragt er.
„Na ja, die Brasilianer hatten einen Propangas-Grill und die Linksextremisten Bock, was in Brand zu stecken.“
„Die Linksextremisten?“
„Ja, die stießen am Gesundbrunnen zu uns, um die streikenden Bahner zu unterstützen, die wir am Südkreuz aufgegabelt hatten.“
„Können wir bitte anhalten?“, fragt der Polizist.
„Ich meine, ich tanze so gerne Conga, wie jeder andere auch, aber um halb 6 ist Dienstschluss.“
„Haltet den Dieb!“, erklingt es von irgendwoher. „Sorry, sieht aus, als hätten wir beide noch was zu tun.“, antworte ich und finde, dass es schlimmer hätte laufen können.

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