Montag, 14. April 2014

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Das Weser-Eck ist ein magischer Ort, an dem die Zeit fünf Minuten bevor man aber wirklich gehen muss, einfach zu vergehen aufgehört zu haben scheint. Es ist ein Ort der Offenheit, an dem alles gesagt und alles gefragt werden darf, ansatzlos, ohne Rechtfertigung oder irgendeine Argumentationskette. Das Weser-Eck ist ein Ort, an dem gefühlte Wahrheit nicht abwertend gemeint ist.
„Welche Musik sollte auf deiner Beerdigung gespielt werden?“, frage ich.

Heiko blickt mich misstrauisch an. „Haste vor zu sterben? Sahst die letzten Wochen auch nicht so fit aus. Ich dachte ja erst, vielleicht liegt's an der Frisur. Muss einfach mal wieder zum Friseur, der Junge. Aber...“
„Ich sterbe nicht. Also zumindest nicht heute.“, sage ich und füge nach einer kurzen Pause richtigstellend hinzu: „Ich sterbe heute an nichts, das ich zu diesem Zeitpunkt voraussehen könnte.“ Super, da ist sie wieder, diese Angst. Seitdem ich nach Berlin gezogen bin, arbeite ich daran, rote Ampeln nach Sonnenuntergang zu ignorieren, so wie es alle echten Berliner tun. Immer wenn ich glaube, Fortschritte gemacht zu haben, erinnert man mich an meine Sterblichkeit und dann steht mein inneres Dorfkind wieder stundenlang Nachts an irgendeiner Ampel, kilometerweit von jedwedem Verkehr verschont, ausgenommen dem bunten Reigen um mich herum tänzelnder Einheimischer natürlich, die mit den Fingern auf mich deuten und mich im Rhythmus ihrer Schritte einen Touristen nennen...
„Hallo, hier spielt die Musik!“, ruft Heiko und schnippst mir vor dem Gesicht herum.
„Musik, ja richtig, Danke. Weißt Du, zu den Dingen, die mein Großvater mir hinterlassen hat, gehört, neben beeindruckendem Haarwuchs und den gesammelten Witzen des Ostens, auch eine große Kiste voll klassischer Musik. Ich bin an sich kein Verehrer von Instrumentalmusik längst toter Leute. Ohne Text zum Mitsingen fällt es mir oft schwer, Musik richtig zu deuten. Woher soll ich denn wissen, was der Künstler uns sagen wollte, wenn er es nicht sagt? Da habe ich es lieber, wenn Thees Uhlmann mir erklärt, er würde als nächstes ein Lied über das Erwachsenwerden namens „The erwachsen werden Song“ spielen, das von einem jungen Mann berichtet, welcher vom Lande in die große Stadt zieht, sich dort unsterblich in einen Blumenkübel voller Koks verliebt und Ihre anrüchige Beziehung durch drei Zweitjobs als Schiffsschaukelballast gerade ebenso finanzieren kann. So wie es eigentlich alle Songs von Thees Uhlmann tun. Diese Konsequenz spricht mich an und ich erkenne mich in den Strophen wieder.“
Heiko nickt stumm und mustert sein Weizenglas. Wir haben nicht wirklich viel gemeinsam, doch beide teilen wir diese Sehnsucht nach einer einfacheren Zeit. Mit nur einem Hauch weniger Bildung wären wir wahrscheinlich große Truckstop-Fans geworden.

„Aber sag du mal deiner Oma, dass du den Krempel Ihres verstorbenen Mannes eigentlich nicht wirklich brauchst. Schließlich war das doch mein Opa, der mir Skat und eine Variante von Backgammon beibrachte, bei der es darum geht, unliebsame Steine des Gegenübers einfach mit den eigenen wegzuschnippsen. Mein Opa, der nicht gelacht hatte, als ich mit rot gefärbten Haaren aus dem Zug stieg und den ich über niemanden jemals auch nur ein schlechtes Wort habe sagen hören.“
Eine unangenehme Gesprächspause später sagt Heiko: „Das erklärt, warum euer Wohnzimmer seit neuestem so nach Bildungsbürger aussieht. Ich habe mich schon gewundert, warum plötzlich Mozarts gesammelte Werke aus jedem Eurer Regale hervorquellen.“, sagt Heiko.
„Ich muss zugeben, dass mir die respektvollen Blicke gefallen, und die Vorsicht, mit der Besucher die Schallplatten am Rücken aus dem Regal ziehen.“, antworte ich.
„Aus dem selben Grund habe ich bei mir Chemielehrbücher auf dem Klo. Aber sei vorsichtig mit den Wagner-Opern. Wer Wagner im Haus hat, der hortet vermutlich auch irgendwo Wanderstiefel, Bilder von röhrenden Hirschen und antisemitisches Gedankengut. Ich sage immer, wenn schon Wagner, dann Tiefkühlpizza.“
„Eine Symphonie für die Geschmacksknospen!“, rufen wir im Chor und schieben dem Wirt unsere leeren Gläser zum Auffüllen hinüber.

„Und hörst Du das Zeug denn auch?“, fragt Heiko mich skeptisch.
„Nur bei der Hausarbeit. Ich habe festgestellt, dass Mussorgsky bei voller Lautstärke den Akt des Wäsche-Aufhängens geradezu transzendiert. Und Vivaldi kommt gut beim Fegen. Da fühle ich mich, als sei ich selbst der Frühling, der mit elegantem Tanze die Kälte aus dem Lande treibt. Zumindest bis Petra unverhofft den Raum betritt und einen Lachkrampf kriegt. Bis dahin ist es aber ganz gut.“
„Und was hat das jetzt mit Beerdigungen zu tun?“
„Na, ich dachte immer, klassische Musik sei die Musik der Toten. Der Soundtrack für Särge, Erde und Tränen, aber was wenn ich mich geirrt habe? Was wenn sich alle geirrt haben und wir in Wirklichkeit ganz andere Musik auf Beerdigungen spielen sollten?“
„Zum Beispiel?“
„Das frage ich doch dich! Welche Musik sollte auf deiner Beerdigung gespielt werden?“
Heikos Zunge folgt den Konturen seiner Unterlippe. Dann sagt er:
Life is life von Opus.“
In meinen Gedanken sehe ich einen Priester, der seiner Gemeinde zuruft: „Life is Life!“, woraufhin diese mit einem weihevollen „Nana nanana.“ antwortet.
„Vielleicht auch Time of my life.“
Jetzt tanzt die Gemeinde in meinen Gedanken anrüchig am offenen Grab. Tanten reiben sich an Onkels, während Brüder Schwägerinnen wirbeln und im Hintergrund trägt der Priester eine Wassermelone durchs Bild.
I will survive.“, setzt er nach.
Another one bites the dust.“
„Ja, ist gut jetzt.“, versuche ich, ihm Einhalt zu gebieten.
Lebt denn der alte Holzmichl noch?“
„Ok! Ok! Ich sehe, Du hast darüber schon mal nachgedacht. Hättest du auch gleich sagen können, anstatt mich hier rührselig werden zu lassen.“
Heiko greift unter sich, holt aus der Jackentasche eine selbst gebrannte CD hervor und gibt sie mir zwinkernd. Auf dem Silberling steht in krakeliger Edding-Schrift: „Lebst Du noch oder stirbst Du schon? Heikos Beerdigung – Das Life-Album.“

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