Ich sitze im Zug. Super. Da merkt man schon nach drei Worten, dass
das hier wohl keine bachmann-preisverdächtige Literaturleistung
werden wird. Tolle Geschichten erkennt man daran, dass sie schon im
allerersten Absatz zu verwirren, begeistern und bestürzen vermögen.
„Helga trieb Jonny die Nadel in den vernarbten Unterarm, während
Jonny den Elch rasierte, während der Elch im Namen einer radikalen
politischen Gruppierung netzwerkte. Im Internet weiß niemand,
dass du ein Elch bist!“
Das ist ein Anfang! Da steckt jede Menge Zunder drin, der des
Fragefeuers Glut blitzeschnell ins Weiße treibt. Welche Ziele
verfolgt der Elch? Versucht er, sich als V-Mann in eine thüringische
Kameradschaft einzuschleusen und muss er deshalb ratzekahl rasiert
werden? Ist Jonny ein ehemaliger Tierfriseur, der seit dem großen
Pudel-Desaster 93 seine Hand nur noch mit Heroin ruhigzustellen
vermag? Was verbindet den Elch, Jonny und Helga und wer von ihnen
wird in der Verfilmung von Leonardo DiCaprio gespielt werden? So geht
Anfang! Und was habe ich hier?
Ich sitze im Zug. Toll, gib doch gleich zu, dass dir nichts
eingefallen ist und du deshalb stur aufschreibst, was eben gerade so
passiert. Ich sitze im Zug. Ein Windrad zieht am Fenster vorbei. Das
ungleichmäßige Rütteln der Schienen bringt meine Oberschenkel zum
vibrieren. Gehe aus Gewohnheit ans Handy, ist aber keiner dran. Dank
einer Dokumentation über Honigbienen habe ich angefangen, Vibration
mit Kommunikation gleichzusetzen, denn Honigbienen im Bienenstock
teilen sich einander durch Schütteln des Hinterleibes mit. Dabei
ändert sich die Botschaft, je nach Geschwindigkeit und
Neigungswinkel. Das erscheint mir praktischer als diese ganze
Gelaber, eindeutiger, unmissverständlicher und besser für die
eigene Fitness. So, wieder einen Absatz geschafft.
Der Schaffner öffnet die Abteiltüre. Er fragt nach meiner
Fahrkarte. Ich beginne heftig mit dem Hinterleib zu vibrieren. Er ist
verwirrt, blickt hilfesuchend auf den Gang. Dann fragt er noch mal
nach meiner Fahrkarte, etwas lauter, aber auch etwas schriller. Ich
erhöhe die Frequenz und ändere den Winkel um 15°. Da soll er mal
sehen, soll er! Bruchstückhaftes Wissen aus dem Physikunterricht
drängt sich mir auf, nach dem sich unterschiedliche Schwingungen
unter gewissen Umständen gegenseitig ins Extrem verstärken können,
z.B. wenn Soldaten auf Brücken zu schneidig marschieren. Bin
beeindruckt von mir und meinen vielfältigen Kenntnissen. Spüre wie
der ICE unter mir den Kontakt der Schiene vernachlässigt. Leere
Kaffeepappbecher, Smartphones und ein ennerviert dreinblickender
Schaffner werden durch das Abteil geschleudert, von irgendwoher
dringt uns das sanfte Sägezahnkreischen einer Notbremse ins Ohr. Der
Schaffner sagt, er würde über die Sache mit dem Vibrieren
hinwegsehen, wenn ich im Gegenzug bis Wolfsburg ruhig sitzen bliebe,
wo er dann in einen anderen Zug umzusteigen plant. Nicke freundlich.
Ich sitze im Zug und denke mir Mist aus. Draußen werden die
Windräder vom Wolfsburger Hauptbahnhof abgelöst. Bin mir nicht
sicher, was schöner ist. Allerdings erfüllen Windräder wenigstens
einen wichtigen Zweck, der ihre Hässlichkeit rechtfertigt. Wolfsburg
hingegen ist einfach nur da. Starre Wolfsburg an. Wolfsburg starrt
zurück. Wolfsburg scheint mir jeden Gedanken, jede kreative Regung
aus dem Hirn zu lutschen. Denke mir, dass es den Wolfsburgern wohl
ähnlich geht. Wann hörte man schließlich zuletzt den Satz:
„Mensch, haste gehört, was da in Wolfsburg schon wieder abgeht?
Mensch da tobt dit Lem, Bräute, Exzesse, Innovationsbereitschaft sag
ick dir!“ Gibt es hier überhaupt was, außer VW und VFL? Wie auch,
wenn es bei den kraftlosen Einwohnern nur noch zu Abkürzungen zu
langen scheint. Ich kenne nur Leute, die durch Wolfsburg hindurch
gefahren sind, aber dageblieben ist noch keiner. Selbst diese
Pendler, die jeden Tag 2 Stunden mit dem ICE von Berlin ins VW-Werk
und wieder zurück gondeln, kenne ich nur aus Fernsehberichten über
Pendler, die jeden Tag 2 Stunden mit dem ICE von Berlin ins VW-Werk
und wieder zurück gondeln. (Die kommen meistens direkt nach den
Honigbienen.) Gibt es hier wirklich eine Stadt, Gebäude mit
Menschen, mit Straßen mit Leben darin und darauf oder handelt es
sich doch nur um eine groß angelegte Scharade der
Tourismus-Industrie, damit es zwischen Berlin und Hannover etwas
weniger trostlos aussieht? Betrachtet man Wolfsburg unter dem
Gesichtspunkt „Besser als nichts, aber bitte nicht cooler als
Hannover“, erscheint einem das Bild vor meinen Augen gleich viel
logischer.
Die Stadt ist in Wirklichkeit nur ein potjemkinsches Dorf, oder
Pjotemkinsches Dorf oder ein Potemkinsches Djorf, ach Sie wissen
doch! Diese Nummer da im 19. Jahrhundert, wo ein Russe namens
Potemkin oder Pjotemkin für einen anderen Russen, nennen wir ihn
Mega-Walter, ganze Dorfkulissen aus Sperrholz am Horizont errichtete,
einzig zu den Zwecke, dass Mega-Walter zufriedener mit seinem
Russland sein möge oder so. Wenn ich hier Netz hätte, könnte ich
das ganze noch mal recherchieren, klüger, zumindest aber gebildeter
wirken, doch ich habe kein Netz. Überlege, ob ich mein
intellektuelles Scheitern der tragischen Auslagerung von Erinnerungen
ins Internet oder doch lieber Wolfsburg anlasten möchte. Entscheide
mich für Wolfsburg.
Aus dem Lautsprecher über der Tür plärrt ein blecherner Signalton, dann eine belegt klingende Stimme. Unser Abfahrt wird sich aufgrund von Störungen im Betriebsablauf noch um einige Minuten verzögern. Vor dem Fenster treibt es das graue Grauen lustlos mit sich selbst. Wenn schon sonst bei dieser Fahrt nicht viel bei rumgekommen ist, dann zumindest doch dieser eine schöne, wahre Satz. Ich sitze im Zug und vor dem Fenster treibt es das graue Grauen lustlos mit sich selbst. Ist doch was. Da könnte ich es jetzt einfach bei bewenden lassen und alle wären irgendwie zufrieden. Hm, warum eigentlich nicht?
Aus dem Lautsprecher über der Tür plärrt ein blecherner Signalton, dann eine belegt klingende Stimme. Unser Abfahrt wird sich aufgrund von Störungen im Betriebsablauf noch um einige Minuten verzögern. Vor dem Fenster treibt es das graue Grauen lustlos mit sich selbst. Wenn schon sonst bei dieser Fahrt nicht viel bei rumgekommen ist, dann zumindest doch dieser eine schöne, wahre Satz. Ich sitze im Zug und vor dem Fenster treibt es das graue Grauen lustlos mit sich selbst. Ist doch was. Da könnte ich es jetzt einfach bei bewenden lassen und alle wären irgendwie zufrieden. Hm, warum eigentlich nicht?
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