Mittwoch, 19. März 2014

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Über Wolfsburg


Ich sitze im Zug. Super. Da merkt man schon nach drei Worten, dass das hier wohl keine bachmann-preisverdächtige Literaturleistung werden wird. Tolle Geschichten erkennt man daran, dass sie schon im allerersten Absatz zu verwirren, begeistern und bestürzen vermögen.

„Helga trieb Jonny die Nadel in den vernarbten Unterarm, während Jonny den Elch rasierte, während der Elch im Namen einer radikalen politischen Gruppierung netzwerkte. Im Internet weiß niemand, dass du ein Elch bist!



Das ist ein Anfang! Da steckt jede Menge Zunder drin, der des Fragefeuers Glut blitzeschnell ins Weiße treibt. Welche Ziele verfolgt der Elch? Versucht er, sich als V-Mann in eine thüringische Kameradschaft einzuschleusen und muss er deshalb ratzekahl rasiert werden? Ist Jonny ein ehemaliger Tierfriseur, der seit dem großen Pudel-Desaster 93 seine Hand nur noch mit Heroin ruhigzustellen vermag? Was verbindet den Elch, Jonny und Helga und wer von ihnen wird in der Verfilmung von Leonardo DiCaprio gespielt werden? So geht Anfang! Und was habe ich hier?
Ich sitze im Zug. Toll, gib doch gleich zu, dass dir nichts eingefallen ist und du deshalb stur aufschreibst, was eben gerade so passiert. Ich sitze im Zug. Ein Windrad zieht am Fenster vorbei. Das ungleichmäßige Rütteln der Schienen bringt meine Oberschenkel zum vibrieren. Gehe aus Gewohnheit ans Handy, ist aber keiner dran. Dank einer Dokumentation über Honigbienen habe ich angefangen, Vibration mit Kommunikation gleichzusetzen, denn Honigbienen im Bienenstock teilen sich einander durch Schütteln des Hinterleibes mit. Dabei ändert sich die Botschaft, je nach Geschwindigkeit und Neigungswinkel. Das erscheint mir praktischer als diese ganze Gelaber, eindeutiger, unmissverständlicher und besser für die eigene Fitness. So, wieder einen Absatz geschafft.

Der Schaffner öffnet die Abteiltüre. Er fragt nach meiner Fahrkarte. Ich beginne heftig mit dem Hinterleib zu vibrieren. Er ist verwirrt, blickt hilfesuchend auf den Gang. Dann fragt er noch mal nach meiner Fahrkarte, etwas lauter, aber auch etwas schriller. Ich erhöhe die Frequenz und ändere den Winkel um 15°. Da soll er mal sehen, soll er! Bruchstückhaftes Wissen aus dem Physikunterricht drängt sich mir auf, nach dem sich unterschiedliche Schwingungen unter gewissen Umständen gegenseitig ins Extrem verstärken können, z.B. wenn Soldaten auf Brücken zu schneidig marschieren. Bin beeindruckt von mir und meinen vielfältigen Kenntnissen. Spüre wie der ICE unter mir den Kontakt der Schiene vernachlässigt. Leere Kaffeepappbecher, Smartphones und ein ennerviert dreinblickender Schaffner werden durch das Abteil geschleudert, von irgendwoher dringt uns das sanfte Sägezahnkreischen einer Notbremse ins Ohr. Der Schaffner sagt, er würde über die Sache mit dem Vibrieren hinwegsehen, wenn ich im Gegenzug bis Wolfsburg ruhig sitzen bliebe, wo er dann in einen anderen Zug umzusteigen plant. Nicke freundlich.

Ich sitze im Zug und denke mir Mist aus. Draußen werden die Windräder vom Wolfsburger Hauptbahnhof abgelöst. Bin mir nicht sicher, was schöner ist. Allerdings erfüllen Windräder wenigstens einen wichtigen Zweck, der ihre Hässlichkeit rechtfertigt. Wolfsburg hingegen ist einfach nur da. Starre Wolfsburg an. Wolfsburg starrt zurück. Wolfsburg scheint mir jeden Gedanken, jede kreative Regung aus dem Hirn zu lutschen. Denke mir, dass es den Wolfsburgern wohl ähnlich geht. Wann hörte man schließlich zuletzt den Satz: „Mensch, haste gehört, was da in Wolfsburg schon wieder abgeht? Mensch da tobt dit Lem, Bräute, Exzesse, Innovationsbereitschaft sag ick dir!“ Gibt es hier überhaupt was, außer VW und VFL? Wie auch, wenn es bei den kraftlosen Einwohnern nur noch zu Abkürzungen zu langen scheint. Ich kenne nur Leute, die durch Wolfsburg hindurch gefahren sind, aber dageblieben ist noch keiner. Selbst diese Pendler, die jeden Tag 2 Stunden mit dem ICE von Berlin ins VW-Werk und wieder zurück gondeln, kenne ich nur aus Fernsehberichten über Pendler, die jeden Tag 2 Stunden mit dem ICE von Berlin ins VW-Werk und wieder zurück gondeln. (Die kommen meistens direkt nach den Honigbienen.) Gibt es hier wirklich eine Stadt, Gebäude mit Menschen, mit Straßen mit Leben darin und darauf oder handelt es sich doch nur um eine groß angelegte Scharade der Tourismus-Industrie, damit es zwischen Berlin und Hannover etwas weniger trostlos aussieht? Betrachtet man Wolfsburg unter dem Gesichtspunkt „Besser als nichts, aber bitte nicht cooler als Hannover“, erscheint einem das Bild vor meinen Augen gleich viel logischer.

Die Stadt ist in Wirklichkeit nur ein potjemkinsches Dorf, oder Pjotemkinsches Dorf oder ein Potemkinsches Djorf, ach Sie wissen doch! Diese Nummer da im 19. Jahrhundert, wo ein Russe namens Potemkin oder Pjotemkin für einen anderen Russen, nennen wir ihn Mega-Walter, ganze Dorfkulissen aus Sperrholz am Horizont errichtete, einzig zu den Zwecke, dass Mega-Walter zufriedener mit seinem Russland sein möge oder so. Wenn ich hier Netz hätte, könnte ich das ganze noch mal recherchieren, klüger, zumindest aber gebildeter wirken, doch ich habe kein Netz. Überlege, ob ich mein intellektuelles Scheitern der tragischen Auslagerung von Erinnerungen ins Internet oder doch lieber Wolfsburg anlasten möchte. Entscheide mich für Wolfsburg.
Aus dem Lautsprecher über der Tür plärrt ein blecherner Signalton, dann eine belegt klingende Stimme. Unser Abfahrt wird sich aufgrund von Störungen im Betriebsablauf noch um einige Minuten verzögern. Vor dem Fenster treibt es das graue Grauen lustlos mit sich selbst. Wenn schon sonst bei dieser Fahrt nicht viel bei rumgekommen ist, dann zumindest doch dieser eine schöne, wahre Satz. Ich sitze im Zug und vor dem Fenster treibt es das graue Grauen lustlos mit sich selbst. Ist doch was. Da könnte ich es jetzt einfach bei bewenden lassen und alle wären irgendwie zufrieden. Hm, warum eigentlich nicht?

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