Uffta! Uffta! Uffta-täterääää!
„Uff.“, denke ich, nunmehr seit 2 Stunden in
der Toilettenschlange am Münchner Hauptbahnhof ausharrend. Eigentlich hatte ich
ja nach Innsbruck fahren wollen, aus Gründen, die ich hier nicht ohne die Worte
„nationale Sicherheit“, „nuklear“ und „Fischstäbchen“zu gebrauchen, erklären
darf.
Aber wie es sich nun einmal so ergab, habe ich
Freunde in München und es war Oktober und die Bretzn damit schon geschlungen,
wie es der Bayer so treffend formuliert.
Ich war mit dem Liegewagen von Berlin
Ostbahnhof nach München gefahren und schon als ich um kurz nach sechs
schlaftrunken aus meiner Koje gewankt kam, überkamen mich erste Beklemmungen.
Ich wandte den Kopf nach rechts und erblickte eine lange Reihe fescher Buam in
Lederhosen und frisch gebügelten, rot karierten Hemden. Ich sah in die
entgegengesetzte Richtung, wo mein Blick auf eine ebenso lange Reihe
Dirndl-Damen traf, deren Gesamtmenge an aufwärts gepressten Brüsten den
Schwerpunkt unseres Zuges in den Kurven gefährlich weit nach oben verlagerte.
War ich aus Versehen in eine mobile Aufführung von Edelweiss geraten? War ich
auf dem Weg zur Zauberkugel falsch abgebogen? Ich war noch nie ein Mensch, der
viel auf Mode, die Angeberschwester der Kostümierung, gegeben hat. In meinen
besseren Momenten attestiere ich mir selbst eine gewisse Nonchalance, ein
lässiges Selbstbewusstsein im Umgang mit meiner Kleidung. Doch dann kommt
wieder jemand und fragt, ob das da Senf auf meinem T-Shirt sei, worauf hin ich
antworte: „Ja.“ Jedenfalls kam ich mir noch nie in meinem Leben derart
underdressed vor, bis jetzt, hier in dieser Toilettenschlange.
Denn hier stehen nicht die Trachtenvereine, die
Heimatverbundenen, die für den Textil gewordenen Ausdruck ihrer Wurzeln schon
mal gut und gerne einen Tausender springen lassen, sondern die Biertouristen,
denen es nicht zu blöd ist, schon um 8 Uhr morgens sturzbesoffen zu sein, die
sich direkt am Bahnsteig beim Discount-Dirndler noch rasch in etwas grelles
geschmissen haben, das einer echten Tracht so nah kommt, wie Leonardo Dicaprio einem
Oscar. Um mich herum skandiert man Stadiongesänge und reicht einander neue
Biere, die rechtzeitig dann die Blasen der Herrschaften erreichen, wenn diese
das Örtchen wieder verlassen, was unmittelbar zu erneutem Anstellen und
weiteren Überbrückungsbieren führt. Ein Perpetuum Pissilé bajuvarischen
Frohsinns, obwohl, bajuvarisch? Hinter mir höre ich den Dialekt eines Kielers,
dahinter ein breites Sächseln und vor mir das leiernde Nuscheln eines Mannes,
der nach eigener Auskunft hier schon die siebte Runde dreht und für heute auch
nichts anderes mehr geplant hat. Der einzige zu hörende bayrische Dialekt
stammt, für dahin schlecht imitiert, von mir, wenn ich mich durch regelmäßiges
Ausrufen von „Joa, mei!“ und „Freiheit für Hoenes“ in die Szenerie zu
akkumulieren versuche. Als ich endlich am vorderen Ende der Schlange angelangt bin,
nickt mir der Toilettenwart gewichtig zu und mahnt mich zur Eile, es sei nun an
der Zeit und die Zeit begrenzt. Ein Ratschlag, den ich nur zu gerne befolge.
Wenige Stunden später. Die Erinnerung daran,
wann und wie wir das Festzelt Zum lustigen Lurch betreten haben verschwimmt
vor meinem inneren Auge. Nach Angaben der Betreiber steht der Lurch schon seit
über 100 Jahren auf den Wiesn und fast meine ich, damals auch schon hier
gewesen zu sein. Die Luft drück schwer vor Bratensauce und der blechernen Gaudi
einer Lederhosen-Band. Hier herrscht eine Zweiklassengesellschaft mit
stählernem Gamsbart. Oben auf den hölzernen Tribünen sitzen die Besitzenden,
gewaltige Fleischberge vor gewaltigen Fleischbergen und nicht minder gewaltigen
Krügen. Belustigt schauen Sie hinab aufs Tal der Durstigen, wo japanische
Reisegruppen das Areal auf der Suche nach einem freien Platz durchstreifen.
Möglichst unauffällig nähern diese sich den, mit gutem Willen sicherlich noch
besetzbaren, Endstücken von Bierbänken, nur um kurz vorm Ziel von einem
überheblichen Security-Typen und seinem winkenden Zeigefinger zurück in die
Herde getrieben zu werden. Neben mir erklärt ein Pfälzischer Familienvater
seiner Frau zum vierten mal, dass er ohne Bier vom Oktoberfest aber „Maß-los
enttäuscht“ sein würde, über mir kichert die Bourgeoisie.
Da verliert etwas in
mir den Halt, etwas brennt durch und etwas daneben krempelt sich die Ärmel
hoch. Ich besinne mich, ganz im Sinne des Oktoberfestes, auf meine Herkunft,
hole Luft und skandiere mehrfach: „Wir sind das Volk! Wir sind das Volk!“
Niemand reagiert. Einzig einige Belgische Touristen zu meiner Linken zückt
vorsichtshalber die Kameras, für den Fall dass es hier bald was zu
fotografieren gäbe. Gibt es aber nicht. Und das ist auch nicht weiter verwunderlich,
denn die Demagogie ist eine lokale Kunst. Sie funktioniert nur, wenn der
Demagoge seinem Publikum das Gefühl gibt, einer von ihnen zu sein. Es reicht
nicht, einfach eine schmissige Line im Gepäck zu haben, sie muss auch den
Gepflogenheiten vor Ort entsprechen. Also ein zweiter Versuch. Ich hole Luft
und singe:
„Atemlos durch die Nacht! Ich scheiße auf eure
Tracht!
Atemlos, alle raus! Es klatscht hier gleich, kein Applaus!“
Da! Der Pfälzer singt mit, zaghaft aber ein Anfang ist gemacht! Auch
seine Frau steigt ein und ein Belgier wagt ein vorsichtiges Schunkeln!
Langsam aber stetig springt die Zeile von Lippe zu Lippe wie Festzelt-Herpes
und schwillt an, wird lauter, erfasst selbst die Musiker auf der Haupttribüne,
deren Posaunist die Aufständischen unverhofft mit einem wilden Solo
unterstützt. Der Mob tobt, Umsturz statt Umtrunk scheint zum Greifen nah! Lachend
dirigiere ich die Massen, als man mir von hinten auf die Schulter tippt. Einer
der Securitys weist mir mit ausgestrecktem Arm den Weg nach oben, hin zu einem
Platz am Tisch und murmelt dabei irgendwas von „Der Schlange den Kopf
abschlagen“. Mit breiter Brust gehe, ach, stampfe ich die Stufen, die die Welt
bedeuten nach oben, setze mich breitbeinig hin und frage den Kellner, ob er
eigentlich wisse, dass heute Tag der Deutschen Einheit sei? Warum sie hier die
Menschen teilten, wo es doch heute um das Miteinander, um das Gemeinsame und
die Kraft zur Veränderung gehen sollte? Er sagt, dass er Franken kaum als
Menschen, geschweige denn als Teil Bayerns anerkennt. Ich erwidere, dass ich
von Ostdeutschland rede. „Leipzig!“, sage ich. „Dresden!“, sage ich. „Potsdam,
Rostock, Erfurt? Ostberlin?“, frage ich nun, angesichts seines vollkommen
leeren Gesichtsausdruckes. Der Kellner antwortet, dass man, ginge es nach ihm,
die Mauer wieder errichten würde und zwar südlich von Nürnberg. Perplex
schweige ich und bedauere ihn für sein enges, eingeschränktes Weltbild und für
alles, was ihm deshalb entgeht. Dann bestelle ich ein Bier. „Was darf's sein?“,
fragt der Kellner. „Ein Sterni, bitte.“
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