„Das Treiben und
Treiben lassen meiner Mitmenschen hört nie auf mich zu verblüffen.“
lässt Heiko mich wissen. Was man halt so sagt, wenn Sommernächte
einem die Denkprozesse schmelzen lassen. Es ist sehr spät oder aber
sehr früh geworden, doch im Neon-Licht des 24 Stunden Supermarkts
wirkt alles konserviert, wirkt alles zeitlos, alles geschmacklos.
„Ich meine,“,
führt er weiter aus und fummelt dabei umständlich eine Packung
Pumpernickel aus dem Regal, „zum Beispiel Luftballons, jetzt nicht
so Gebrüder Montgolfier mäßige Himmels-Oschis, sondern bunte
Latex-Ballons, beliebter Dekorationsartikel auf Hochzeiten und
Kindergeburtstagen.
Ich meine, was soll das?
„Sohn, wenn du
ins Wohnzimmer gehst, wirst du feststellen, dass wir den ganzen Raum
mit grellen Plastikbeuteln voller mundwarmem Kohlenmonoxid dekoriert
haben. Herzlichen Glückwunsch zu deinem 8. Geburtstag!“
Was ist denn
ausgehauchter Atem,...“, fragt er und unterstreicht die Frage mit
theatralischem Pusten, „Was ist denn ausgehauchter Atem, schon
anderes als Tod? Allein um seine Widernatürlichkeit zu erkennen,
muss man ihn ja nur berühren.“
„Den Tod?“
„Den Ballon! Seine
klebrige Glätte, sein chemischer Geruch, das leichte Knistern und
Quietschen der Elektrostatik unter den Fingerkuppen, als würde man
das Gesicht von Harald Glööckler liebkosen. Der ist auch so ein
Ballon, hohl und aufgeblasen. Eine Nadel möcht' ich nehmen, in ihn
hineinstechen und hinterherwinken, wenn der Glööckler, angetrieben
von seiner eigenen Heißluftt, hilflos davon zischt.“
Ich packe den
Rhabarber-Brotaufstrich in unseren Einkaufskorb und lege Heiko die
rechte Hand auf die Schulter. Ich blicke ihm solange fest in die
Augen, bis seine Lunge etwas weniger rasselnde Töne von sich gibt.
Dann frage ich: „Heiko, was stört dich wirklich?“ Er macht einen
kleinen Schritt auf mich zu, senkt den Blick und die Stimme. „Männer
in kurzen Hosen.“
„Ja, das kann ich
gut verstehen. Kaum, dass der Mai geschlagen hat, sieht man überall
nur noch knorpelige Knöchel und käsige Waden, die das Sonnenlicht
bestenfalls aus mündlich überlieferten Legenden kennen. Es gibt
einen proportionalen Zusammenhang zwischen der Glaubwürdigkeit eines
Mannes und der Länge seiner Hosenbeine. Männer in kurzen Hosen
sehen immer ...“
„... wie kleine
Jungs aus!“ beenden wir den Satz gemeinsam. „Ja genau, wie so
Schulbuben um das Jahr 1900 herum. So mit Matrosenanzug,
Kniestrümpfen und Kaisertreue.“
„Und da rede ich
jetzt nicht von diesen antilopenhaft geschmeidigen 19 jährigen
Abiturienten. Denn das sind noch keine Männer und ihren Schenkeln
mangelt es an Krämpfen und Narben!“, sagt Heiko.
„Ich meine
richtige Männer. Geschäftsmänner, stahlkochende, barttragende,
gestandene Ehegatten und Familienväter und Lastkraftwagenfahrer mit
vor lauter Erfahrung heiß glühenden Blicken. Kaum küsst ein
einzelnes Photon ihre bleichen Gesichter, zack, reißen Sie sich das
Beinkleid vom Leibe, als gelte es, bei den Chippendales vorzutanzen.
Mann kann ja über unsere Politiker vieles sagen, aber Rainer
Brüderle habe ich noch nie in Bermudashorts gesehen und das finde
ich gut so!“
Es ist sehr spät
oder aber sehr früh geworden. Doch egal zu welcher Tageszeit, man
sollte sich in Acht nehmen, wenn Heiko Sätze mit „Man kann ja über
unsere Politiker vieles sagen, aber...“ beginnt. Ebenso sollte man
sich ducken, wenn er Kommentare mit „... und das finde ich gut so!“
enden lässt. Allerdings sollte man das bei den meisten Menschen tun.
Ganz allgemein sollte man sich mehr ducken.
„Bist du nicht
auch froh, so ein hervorragendes Stilgefühl zu besitzen?“, wechsle
ich daher geschickt das Thema. Wir betrachten unsere Abbilder im
spiegelnden Endstück des Wurstwarenkühlregals. Ich trage ein
Clownskostüm, denn dessen ausgebeulte Hose ist das mit Abstand
bequemste Kleidungsstück, dass ich besitze. Natürlich könnte ich
auch nur die Hose anziehen und die rosa Perücke nebst Weste mit
gelben Tupfen zuhause lassen, aber dann besäße ich eine nutzlose
rosafarbene Perücke nebst sinnlos getupfter Weste und an solcherlei
Verschwendung wird die Welt dereinst zugrunde gehen!
Heiko trägt ein
T-Shirt mit der Aufschrift: „Wer zuletzt lacht, denkt zu langsam.“,
sonst nichts. Seine Hoden schaukeln aufmüpfig im Luftzug der
Klimaanlage. Ja, ein Rebell ist er und sein Verzicht auf Beinkleider
eine Art umgekehrter Femen-Protest gegen kurze Hosen, eine
absichtliche Bloßlegung dessen, was sich vorzustellen man sonst nur
nach mehreren Kurzen auch nur zu wagen überdenkt.
„Findest du uns
sexistisch?“ frage ich nach einigen Sekunden.
„Nö, wieso?“
„Na, was wenn wir
uns da zu sehr auf unsere Perspektive beschränken? Frauenwaden und
alles was um sie herum geschieht, beispielsweise, sind doch was
Schönes. Jeden Sommer freue ich mich, einige von ihnen wieder zu
sehen. Sind wir nicht längst über die Zeiten hinweg, in denen für
Frauen und Männer unterschiedliche Maßstäbe galten?“
„Finden wir es
heraus.“ sagt Heiko und stellt sein nacktes, linkes Bein auf das
Laufband von Kasse 2. Ursprünglich hatte er mit den Yoga-Stunden
angefangen, um seiner Rastlosigkeit entgegenzuwirken, seine innere
Mitte wieder zu entdecken. Doch vor allem entdeckte er die große
Freude, mit seiner neu erworbenen Gelenkigkeit seine Füße überall
dort unterzubringen, wo man sich sonst vor ihnen sicher wähnte. Die
Kassiererin blickt auf, nachdem es ihr auch im zweiten Anlauf nicht
gelungen ist, den Fuß einzuscannen. Sie erstarrt.
„Finden Sie das
schön?“ fragt Heiko und streicht dazu mit beiden Händen lasziv an
seinem Unterschenkel auf und ab. „Finden – Sie – das –
schön?“
Es ist sehr spät
oder aber sehr früh oder aber früh sehr spät geworden oder aber
ach sie wissen schon …
Manchmal glaube ich
den Wind sich in den feinen Härchen auf meinen Beinen verfangen zu
spüren. In meiner Phantasie fühlt es sich gut an.
Danke für das Bild eines angestochenen, verblüfft dreinguckenden und mit lautem Pupsgeräusch von Dannen zischenden Harald Glööckler! :-D
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