Montag, 3. Februar 2014

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Über Unterschenkel












„Das Treiben und Treiben lassen meiner Mitmenschen hört nie auf mich zu verblüffen.“ lässt Heiko mich wissen. Was man halt so sagt, wenn Sommernächte einem die Denkprozesse schmelzen lassen. Es ist sehr spät oder aber sehr früh geworden, doch im Neon-Licht des 24 Stunden Supermarkts wirkt alles konserviert, wirkt alles zeitlos, alles geschmacklos.
„Ich meine,“, führt er weiter aus und fummelt dabei umständlich eine Packung Pumpernickel aus dem Regal, „zum Beispiel Luftballons, jetzt nicht so Gebrüder Montgolfier mäßige Himmels-Oschis, sondern bunte Latex-Ballons, beliebter Dekorationsartikel auf Hochzeiten und Kindergeburtstagen.
Ich meine, was soll das?
Sohn, wenn du ins Wohnzimmer gehst, wirst du feststellen, dass wir den ganzen Raum mit grellen Plastikbeuteln voller mundwarmem Kohlenmonoxid dekoriert haben. Herzlichen Glückwunsch zu deinem 8. Geburtstag!“

Was ist denn ausgehauchter Atem,...“, fragt er und unterstreicht die Frage mit theatralischem Pusten, „Was ist denn ausgehauchter Atem, schon anderes als Tod? Allein um seine Widernatürlichkeit zu erkennen, muss man ihn ja nur berühren.“
„Den Tod?“
„Den Ballon! Seine klebrige Glätte, sein chemischer Geruch, das leichte Knistern und Quietschen der Elektrostatik unter den Fingerkuppen, als würde man das Gesicht von Harald Glööckler liebkosen. Der ist auch so ein Ballon, hohl und aufgeblasen. Eine Nadel möcht' ich nehmen, in ihn hineinstechen und hinterherwinken, wenn der Glööckler, angetrieben von seiner eigenen Heißluftt, hilflos davon zischt.“

Ich packe den Rhabarber-Brotaufstrich in unseren Einkaufskorb und lege Heiko die rechte Hand auf die Schulter. Ich blicke ihm solange fest in die Augen, bis seine Lunge etwas weniger rasselnde Töne von sich gibt. Dann frage ich: „Heiko, was stört dich wirklich?“ Er macht einen kleinen Schritt auf mich zu, senkt den Blick und die Stimme. „Männer in kurzen Hosen.“
„Ja, das kann ich gut verstehen. Kaum, dass der Mai geschlagen hat, sieht man überall nur noch knorpelige Knöchel und käsige Waden, die das Sonnenlicht bestenfalls aus mündlich überlieferten Legenden kennen. Es gibt einen proportionalen Zusammenhang zwischen der Glaubwürdigkeit eines Mannes und der Länge seiner Hosenbeine. Männer in kurzen Hosen sehen immer ...“
„... wie kleine Jungs aus!“ beenden wir den Satz gemeinsam. „Ja genau, wie so Schulbuben um das Jahr 1900 herum. So mit Matrosenanzug, Kniestrümpfen und Kaisertreue.“
„Und da rede ich jetzt nicht von diesen antilopenhaft geschmeidigen 19 jährigen Abiturienten. Denn das sind noch keine Männer und ihren Schenkeln mangelt es an Krämpfen und Narben!“, sagt Heiko.
„Ich meine richtige Männer. Geschäftsmänner, stahlkochende, barttragende, gestandene Ehegatten und Familienväter und Lastkraftwagenfahrer mit vor lauter Erfahrung heiß glühenden Blicken. Kaum küsst ein einzelnes Photon ihre bleichen Gesichter, zack, reißen Sie sich das Beinkleid vom Leibe, als gelte es, bei den Chippendales vorzutanzen. Mann kann ja über unsere Politiker vieles sagen, aber Rainer Brüderle habe ich noch nie in Bermudashorts gesehen und das finde ich gut so!“
Es ist sehr spät oder aber sehr früh geworden. Doch egal zu welcher Tageszeit, man sollte sich in Acht nehmen, wenn Heiko Sätze mit „Man kann ja über unsere Politiker vieles sagen, aber...“ beginnt. Ebenso sollte man sich ducken, wenn er Kommentare mit „... und das finde ich gut so!“ enden lässt. Allerdings sollte man das bei den meisten Menschen tun. Ganz allgemein sollte man sich mehr ducken.
„Bist du nicht auch froh, so ein hervorragendes Stilgefühl zu besitzen?“, wechsle ich daher geschickt das Thema. Wir betrachten unsere Abbilder im spiegelnden Endstück des Wurstwarenkühlregals. Ich trage ein Clownskostüm, denn dessen ausgebeulte Hose ist das mit Abstand bequemste Kleidungsstück, dass ich besitze. Natürlich könnte ich auch nur die Hose anziehen und die rosa Perücke nebst Weste mit gelben Tupfen zuhause lassen, aber dann besäße ich eine nutzlose rosafarbene Perücke nebst sinnlos getupfter Weste und an solcherlei Verschwendung wird die Welt dereinst zugrunde gehen!
Heiko trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift: „Wer zuletzt lacht, denkt zu langsam.“, sonst nichts. Seine Hoden schaukeln aufmüpfig im Luftzug der Klimaanlage. Ja, ein Rebell ist er und sein Verzicht auf Beinkleider eine Art umgekehrter Femen-Protest gegen kurze Hosen, eine absichtliche Bloßlegung dessen, was sich vorzustellen man sonst nur nach mehreren Kurzen auch nur zu wagen überdenkt.
„Findest du uns sexistisch?“ frage ich nach einigen Sekunden.
„Nö, wieso?“
„Na, was wenn wir uns da zu sehr auf unsere Perspektive beschränken? Frauenwaden und alles was um sie herum geschieht, beispielsweise, sind doch was Schönes. Jeden Sommer freue ich mich, einige von ihnen wieder zu sehen. Sind wir nicht längst über die Zeiten hinweg, in denen für Frauen und Männer unterschiedliche Maßstäbe galten?“
„Finden wir es heraus.“ sagt Heiko und stellt sein nacktes, linkes Bein auf das Laufband von Kasse 2. Ursprünglich hatte er mit den Yoga-Stunden angefangen, um seiner Rastlosigkeit entgegenzuwirken, seine innere Mitte wieder zu entdecken. Doch vor allem entdeckte er die große Freude, mit seiner neu erworbenen Gelenkigkeit seine Füße überall dort unterzubringen, wo man sich sonst vor ihnen sicher wähnte. Die Kassiererin blickt auf, nachdem es ihr auch im zweiten Anlauf nicht gelungen ist, den Fuß einzuscannen. Sie erstarrt.

„Finden Sie das schön?“ fragt Heiko und streicht dazu mit beiden Händen lasziv an seinem Unterschenkel auf und ab. „Finden – Sie – das – schön?“
Es ist sehr spät oder aber sehr früh oder aber früh sehr spät geworden oder aber ach sie wissen schon …

Manchmal glaube ich den Wind sich in den feinen Härchen auf meinen Beinen verfangen zu spüren. In meiner Phantasie fühlt es sich gut an.  

1 Kommentar:

  1. Danke für das Bild eines angestochenen, verblüfft dreinguckenden und mit lautem Pupsgeräusch von Dannen zischenden Harald Glööckler! :-D

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