Dienstag, 16. Dezember 2014

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„Was'n das?“, frage ich, als ich den Balkon betrete.
„Das ist festliche Beleuchtung.“, antwortet Heiko.
„Ah, gut. Wollte nur sicher gehen.“, sage ich und schiebe das mit fluoreszierender Farbe gemalte Portrait von Alice Schwarzer aus dem Weg. Es zeigt Frau Schwarzer, die sich an der Mitte einer langen Tafel, umgeben von der vollständigen Emma-Redaktion über das anhaltende Lohngefälle zwischen Männern und Frauen wundert. Darunter steht: Alice im Wunderland. Ich wühle eine Zigarette aus der Packung und das Feuerzeug aus der Manteltasche. Bis mir auffällt, dass ich Nichtraucher bin, habe ich das benutzte Taschentuch schon bis zur Mitte weggeraucht.

„Haste letztes Jahr aber nicht gemacht.“, sage ich und huste zwischen den Silben.
„Hmhm.“, antwortet Heiko.
„Ich mein ja nur. Als ich dir letztes Jahr vorschlug, du könntest ja eine Lichterkette aufhängen, sagtest du, Lichterketten und Schwippbögen seien nichts als die stromfressenden Totems einer kapitalistischen Entität im roten Gewande der Solidarität und jeder der sich ihrer bedient ein Schaf, dass es verdiene von der Geschenke-Industrie auf dem Altar des Konsums geschächtet zu werden.“
„Dein Gedächtnis erstaunt mich immer wieder.“, sagt Heiko, und dann:
„Was ich hier mache ist natürlich keine Weihnachtsdeko, sondern Weihnachtstarnung. Erinnerst du dich nicht mehr an letztes Jahr?“

Letztes Jahr war Heiko ausgeraubt worden. In der Adventszeit überfallen von Dieben, die aus der Abwesenheit von Funkelzeug und Tannentrallafitti geschlossen hatten, der Mensch hinter diesen Fenstern müsse wohl in den Weihnachtsurlaub gefahren sein. Sie irrten und das sogar in zweierlei Hinsicht. Zum Einen saß Heiko nicht am Karibikstrand, sondern nur im Weser-Eck, wo das Einzige, was da glühte, die Wangen der Saufbolde waren.
Zum Anderen gab es für sie gar nichts zu holen. Denn alles, was Heiko besitzt, hat er sich über die Jahre vom Sperrmüll oder bei Wohnungsauflösungen zusammengesucht und selbst das war nicht besonders viel. Er besitzt ein genügsames Wesen, ein wackelndes Regal voller Comics, einen abgewetzten Küchentisch und einen Röhrenfernseher, der nur noch Phönix empfängt. Oft sitzt er auf den blanken Dielen und verliert sich abwechselnd in Dokumentationen über das antike Mesopotamien und Liveübertragungen aus dem Bundestag. Ohne den Unterschied wahrzunehmen. Bedenkt man dies, hält man einen großen Teil des Schlüssels zu seinem doch recht verschrobenen Wesen in den Händen. In der Tat hatte er nach dem Einbruch sogar mehr als zuvor, denn die Einbrecher ließen ihm einen Leib Brot und einen Zettel da, beschriftet mit: „Du brauchst es nötiger.“

„Sieh dich doch mal um!“, fordert Heiko mich auf. Überall Lichter. In jedem Fenster, auf jedem Balkon, an jeder Tür glitzert es, blinkt und singt es in Gold und Rot, so dass man sich fragen muss, ob hier noch Advent oder schon die Neueröffnung eines Luxus-Puffs gefeiert wird.
„Ja, gut, verstehe.“, sage ich und dann: „Aber zu richtigen Lichterketten reicht es trotzdem nicht?“
„Pffft. Hier, eine Sonnenbrille.“, sagt Heiko und betätigt einen Kippschalter neben sich, aus dem heraus sich gefährlich viele Kabel in alle Ecken des Balkons verästeln. Ich kenne ihn gut genug, um nicht erst dumm nachzufragen, warum ich ausgerechnet jetzt eine Sonnenbrille bräuchte und dieses Wissen rettet mir wohl mein Augenlicht. Neben mir erwachen drei zu einer Art Windspiel verknotete Taschenlampen zum Leben, über mir summt ein Aquarium voller Glühwürmchen und daneben wiederum zischt eine Menora, also so ein jüdischer Kerzenständer, in dessen sieben Armen jedoch keine Kerzen aufleuchten, sondern sieben Laserschwerter. Darunter hat Heiko eine Batterie Baustrahler installiert und auf Diskokugeln verschiedener Größe gerichtet, die wiederum Kronen aus Knicklichtern zu tragen scheinen und zwischen ihnen erkenne ich eine komplizierte Apparatur aus Legosteinen und Panzertape, welche alle 20 Sekunden ein mit Phosphor und Magnesium gefülltes Tischfeuerwerk per Schweißgerät zündet. Das bisschen, was zwischen diesem Blitzlichterkrieg noch vom Balkon zu erkennen ist, hat Heiko liebevoll mit Parabolspiegeln und Alufolie ausgekleidet, um die Illumination unbarmherzig bis in die hintersten Winkel des Hinterhofes zu tragen und wahrscheinlich auch weit darüber hinaus. Nach Belgien zum Beispiel.

Heikos Installation illustriert aufs schönste den Einfluss, den das Licht, beziehungsweise dessen Intensität auf seine Umgebung hat. Nicht nur, dass die Vögel im Baum in der Mitte des Hofes panisch zu brüten beginnen, nicht nur, dass besagter Baum schlagartig und mit einem komödiantischen PLOPP! in voller Blühte steht und nicht nur, dass ein Großteil unserer Nachbarschaft sich lautstark über für Uhr- und Jahreszeit atypischen Pollenflug erbost, nein. Am beeindruckendsten ist zweifellos, erleben zu dürfen, wie der gesamte Schnee der letzten beiden Wochen innerhalb von Sekundenbruchteilen im Aggregatzustand changiert und so im Hof zwischen den Hinterhäusern ein Binnengewässer ensteht, wo nie zuvor ein Binnengewässer gewesen war. Kleine Wellen warfen einander das gebrochene Licht der Diskokugeln zu, zerbrachen es weiter bis daraus ein flirrender Regenbogenteppich wird, auf dem kleine Hundehäufchen, vom Sommer übrig gebliebenes Kinderspielzeug und Frau Müller von nebenan friedlich umhertrieben. Kurz beschäftigt mich die Frage, ob das Wasser wohl gefrieren wird, bevor oder nachdem es die Kellerräume geflutet hat und welche der beiden Varianten für das Technische Hilfswerk wohl weniger anstrengend wäre, dann stelle ich das Denken aber ein und genieße nur noch. Heiko wirkt stolz und ich finde, er hat Grund dazu. Ich klopfe ihm auf die Schulter. Ich finde, das hier ist die schönste Festtagstarnung aller Zeiten.

3 Kommentare:

  1. Überaus köstlich! Obwohl total skurril und überspitzt, die letzten beiden Abschnitte konnte ich mich sogar bildlich vorstellen! ;-)

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  2. Hi Karsten,
    ich darf dir gratulieren: du hast mein kleines "Hundebüchlein" gewonnen.
    k l i c k s t d u d a
    VG, Alex

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